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Interview mit Literatur Outdoors


Lieber Erec, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?


Ich bin mir gerade nicht sicher, ist es noch die zweite Welle oder bereits die dritte? Mein Alltag ist jedenfalls noch kleinteiliger geworden. Ständiges Abwägen zwischen Brotjobs, aktivistischem Engagement, Organisation von digitalen Lesereihen, eigenen Schreibprojekten – und all das mit Familienleben, mit zwei Kindern in Einklang zu bringen. Da reichen schon minimale Shifts, um an anderer Stelle Gegenwellen zu erzeugen. Freelancer*innentum ist per se fragil. Unter Pandemiebedingungen und mit geschlossenen Schulen verschärft sich der Spagat. Der Tagesablauf ist stark an den Bedürfnissen der Kinder ausgerichtet. Längeres konzentriertes Arbeiten tagsüber eher schwierig. Fragen der Zeitsouveränität müssen diffizil ausgehandelt werden, um zu einem fairen Ausgleich zu kommen. Das führt mitunter zu Reibereien unter uns Eltern, auch weil wir uns mehrmals in Quarantäne begeben mussten. Die neuen Routinen der Pandemie haben für mich immer noch was Surreales. Ich vermisse es, Menschen in jeder Situation ins Gesicht schauen zu können. Es fällt mir als Asthmatiker schwer, Maske zu tragen, sehe mich mental außerstande, einfach mal nichts zu tun, mich treiben zu lassen, ich vermisse die Möglichkeit, unbeschwert auszugehen, auf Lesungen zu sein, mich unter ein Publikum zu mischen, den Puls der Stadt zu spüren. Ansonsten versuche ich aus den Einschränkungen das Beste zu machen. Ich bin dankbar, dass wir nicht unter Existenzängsten leiden. Insbesondere meinen 9-jährigen Sohn binde ich in möglichst viele Aktivitäten ein, wie Yoga, Fitnessübungen, Haushalt, Lesen oder die Zubereitung von Mahlzeiten. Die Zeit abends ab halb 9 bis ungefähr 1 Uhr nachts ist für die eigene Arbeit reserviert und dann stecke ich auch am tiefsten im Schreib- und Arbeitsflow. Durch die Verdichtung vielleicht sogar intensiver als zuvor.


Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?


Menschen kommen sehr unterschiedlich mit der Krise klar, sind unterschiedlich betroffen und vulnerabel. Als soziale Wesen sind wir aufeinander angewiesen. Das Mindeste was wir tun sollten, ist, Freundlichkeit, Empathie und Hilfsbereitschaft zu praktizieren. Sich in dieser Ausnahmesituation gegenseitig zu stressen, macht keinen Sinn. Viele stehen beruflich oder auch persönlich vor einem Scherbenhaufen, wissen nicht, wie es weitergeht, sind extrem dünnhäutig geworden, depressiv, innerlich verhärtet, vereinsamen. Viele kommen gerade so über die Runden, andere können das hingegen mehr oder weniger entspannt aussitzen – und nicht wenige profitieren sogar von der Krise. Ich würde mir eine gerechtere Verteilung der finanziellen und gesellschaftlichen Lasten wünschen. Der wieder verstärkt debattierte Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre ein wichtiger Schritt gewesen.


Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?


Die Pandemie hat uns massive Veränderungsprozesse abgetrotzt. Es hat mich frappiert, auf was die Menschen zu verzichten bereit gewesen sind. Es gab schon viel Solidarität und spontane Hilfsbereitschaft. Aber wir sollten ehrlich sein. Die Welt ist keine bessere, keine gerechtere, friedlichere geworden. Wenn wir aber die Dringlichkeit, mit der uns die Pandemie ein verändertes Denken und Handeln zumindest temporär aufgezwungen hat, als Maßstab für andere nicht minder dringliche Belange annehmen, dann wäre viel gewonnen. Millionen Menschen sterben Jahr für Jahr an Unterernährung, leben in tiefster Armut, sind Opfer von Krieg und Gewalt, von Diskriminierung und Unterdrückung, sind auf der Flucht, leiden unter dem Klimawandel, usw. Als vegan lebender Mensch erschüttern mich neben dem großen Leid, das die Pandemie verursacht hat, die milliardenfachen Tötungsexzesse in den Fleischfabriken für eine tierische Ernährungsweise, für die es heutzutage keine Notwendigkeit mehr gibt. Dass man bereit war, aus Furcht vor einer Covid-Mutation Millionen Nerze zu töten, spricht Bände für unser fehlgeleitetes Verhältnis zur Natur und zu unseren Mitgeschöpfen. Die Klimakatastrophe wird immer augenfälliger, spürbarer. All das tangiert uns genauso wie die Pandemie – und noch viel mehr. Wir können die Welt verändern, wenn wir uns selbst verändern und unsere politischen Vertreter*innen dazu drängen, endlich eine gerechtere, nachhaltigere Politik umzusetzen. Die Pandemie hat uns gezeigt (und das ist das Positive), dass wir in der Lage sind, unsere Lebenseinstellungen zu ändern, unsere Verhaltensweisen, unsere Konsumgewohnheiten, dass wir uns ein stückweit frei machen können von dem Toxischen, dem wir täglich ausgesetzt sind. Kunst ist für mich im besten Fall immer auch eine soziale Praxis, Schweigen zu brechen, sich eine Stimme zu geben, Stimmen zu vereinen. Kunst ist der prägnanteste Nachweis, dass wir als denkende und (mit)fühlende Wesen existieren und über uns hinausdenken und -wachsen können. Eine Einfühlung in das Andere, scheinbar Undenkbare, Experimentierfeld des Utopischen, Alternativlosigkeiten zu hinterfragen, Widerständigkeit einzuüben, Befreiung von Konsum und Fesseln des eigenen Egos, Altruismus zu leben. Eine Schule des Sehens. Genau hinzusehen, zu sehen, was da ist, schon immer da war, das Wegsehen verlernen, das Filtern und – irgendwann hoffentlich auch wieder – das Masketragen.


Was liest Du derzeit?


Mein Leseverhalten ist notorisch chaotisch. Ich lese täglich bis zu zehn Bücher gleichzeitig, immer nur ein paar Seiten, selten mal ein Buch zu Ende. An „Unruhig bleiben“ von Donna Haraway bin ich etwas hartnäckiger dran. Chris Kraus, Leslie Jamison gehören zu meinen aktuellen Favorites, und als ständiger Begleiter vor allem das Shobogenzo.


Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?


All you need is less (Nico Paech). Gerade für sogenannte Wohlstandsgesellschaften halte ich eine Auseinandersetzung mit Grundsätzen einer Postwachstumsökonomie für unabdingbar: wie wir sozial verträglich einen Ausstieg aus dem Wachstumsparadigma gesellschaftlich organisieren können, neue Formen solidarischen Wirtschaftens etablieren.


Vielen Dank für das Interview lieber Erec viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!




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