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Video Rezension über Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki

Aktualisiert: 2. Juni 2021

Im Rahmen der Akademie der Lyrikkritik entstand dieses Video.



Rezension & Video: Erec Schumacher

Sprecherin: Magdalena Montasser


Die tollwütigen Hunde


(1) Die Hölle, das sind die Anderen, sie dringt tief in uns ein, wir nähren sie, arrangieren uns mit ihr, schließen einen Pakt.


(2) Die Kindheit des polnischen Dichters Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki muss so eine Hölle gewesen sein. Ein Wurzellabyrinth, das sich tief mit seiner Poetologie verflochten hat. Ohne diese traumatischen Erfahrungen wäre er als Dichter kaum vorstellbar. Ohne Kenntnis dieser Familiengeschichte, bleiben seine Arbeiten unverständlich.

Die Gedichte des Auswahlbandes „Norwids Geliebte“ kreisen vor allem um die Mutter des Autors. In einer biografischen Fußnote am Ende des Bandes gibt er darüber karg Auskunft.


(3) 1962 in dem Dorf Wólka Krowicka geboren, unweit der ukrainischen Grenze, litt Tkaczyszyn-Dycki einerseits unter der Alkoholsucht und Schizophrenie seiner Mutter, die sich als Geliebte des romantischen Dichters Norwid halluziniert, und andererseits unter der Brutalität des Vaters, den er als Ungeheuer schmäht, als polonisierten Widerpart zur Mutter, ohne Kenntnis von Norwids Werk und Literatur überhaupt. Der Großvater war ein berüchtigter Banderist der nationalistischen ukrainischen Untergrundarmee, die Massaker verübte und die Tkaczyszyn-Dycki als „axtmänner“ bezeichnet. Er selbst lernte erst mit 15 Jahren polnisch, sprach zuvor chachlackisch, ein Grenzdialekt aus verschiedenen Spracheinflüssen.


(4) Aus der tiefe der verwünschungen. Es sind die Gespenster der Vergangenheit, Heimsuchungen, die den 66 Gedichten wesenhaft ihre Signatur aufdrücken. Erinnerungssplitter, die wie unter Zwang heraufbeschworen werden, eine ewige Reise zurück in die Heimat, in die Trümmerlandschaften der Geschichte, deren dunkel pulsierendes Zentrum die Krankheit der Mutter bildet. Skizzen aus Gegenüberstellungen, Recherchen, Inventarisierungen. Totensichtungen in den gesäuberten, vor sich hindämmernden Dörfern der Kindheit, Vormoderne nahezu, mit Elementen aus Märchenwelten, den Schrecken des Großen Krieges, der zahllose kleine Kriege einschloss, Kriege, die niemals aufhören, mit gegenseitigen Massakern, Frontwechseln, Deportationen, Partisanenwäldern und schauerromantisch-grotesken Zügen a la E.T.A. Hoffmann.


(5) keine tage sehen… nur die geballte faust … der sonne dunkelheit. Die Einöden zum Leuchten bringen, die vergiftete Idylle. Krowica Holodowska, Wielkie Oczy, Przemyskie, Wola Wielka, Borowa Góra – seit er sie verließ, so schreibt Tkaczyszyn-Dycki, war er in wahrheit nirgends. Verloren in Hellsichtigkeit und verharrend in Dunkelheit. Wiederholungszwang, Variationsmanie in Zeiten der Massenvernichtung, unter Kriegsrecht, erst unter realsozialistischen, dann marktradikalen Bedingungen. Ganze Zeilen, halbe Strophen, die von Gedicht zu Gedicht weitergereicht werden, neue Zusammenhänge erschließen, neue Einbettungen. Sich fortwährend zum Namen der Mutter bekennen, der verklärten Banderisti, im Widerschein des Versagens aller Systeme, aller Werturteile, im Spiel der Erscheinungen und kollektiver Phantasmen. Das autobiografische Schreiben als Leuchtspur des Fatalistischen. Die Schizophrenie der Mutter als Stigma und zugleich als Ariadnefaden, der wegführt vom Minotaurus, der durch den Vater repräsentiert ist. Schreiben im Zwiespalt. Das Lied vom Raben, an den mauern des spitals, der ausgrenzenden Dorfgemeinschaft.


(6) ein schöner mensch verschwand. die mutter als aschenputtel und nie bei gesundem verstand. Der Sohn, der den zurückgelassenen Schuh der Mutter in der Hand hält, während Daunen durch die Luft schweben. sprich polnisch, um da rauszukommen, sei polnisch in und durch Heimatlosigkeit. Hellsehen im tiefsten Innern und zerfetzte Totenscheine in der Hand halten. Totenscheine, die das Zeug zur Poesie haben. Zwiesprache mit dem Gedicht halten, aber mit welchem polnisch auf den lippen. Sich in vollkommener Dunkelheit bewegen, wie die Mutter, wie das Gedicht. Aus Lumpen Gedichte machen. fruchtsuppe aus knochenbrühe. Das Wesen der Poesie, das sich aus Halbsätzen speist, aus Fragmenten.


(7) Die Einöde als gothic novel. wolkenschieber sein. Im Viehwaggon wie die Mutter. Deportation, Flucht, Deportation, Flucht. warum sterben zuerst die einen und dann die anderen. Warum gibt es kein Entrinnen. warum glaubt niemand an meine vergangenheit. Tkaczyszyn-Dyckis zuhause ist die polnische sprache, als wäre sie ein kirchlein, wo einst das mütterliche Gut stand, und seine Sprache ist ein Spital in Wegorzewo. Es sind Ausdrucksweisen der Selbstentfremdung, die mal bitter, mal ironisch gebrochen durch die Verse schleichen, Formen der Mystifikation, Postapokalyptisches als Realität, Farce und Erklärungsversuch. Es sind nahezu mittelalterlich wirkende Chroniken, die palimpsestartig oder mittels Erasures zu Collagen re-arrangiert werden, ohne dass man sie zwangsläufig als Collagen lesen muss bzw. erkennt. Hier spiegeln sich Tkaczyszyn-Dyckis Qualitäten: Zusammenhänge durch Aussparungen, durch Streichungen zu erzielen, durch Lakonie, Brüche und Wiederholungen. Sie engzuführen mit Paradigmen poetischer Vergegenwärtigung - ihre Beschränktheit, Nutzlosigkeit, Vergeblichkeit ins Feld zu führen, um dann emphatisch zu verkünden, genau das nie und nimmer zu akzeptieren. Die Namen der Verstorbenen zu bewahren. Die Narben der Geschichte. Die Kirche, aus der ein Lager für Kunstdünger wurde, die Synagoge, die als Eierspeicher verendete. Es sind wenige Szenen, Motive, Metaphern, die hier heraufbeschworen werden. Vor allem das Bild der tollwütigen Hunde ist allgegenwärtig. Die Aggression des Vaters als tollwütiger Hund, genauso wie die Schizophrenie der Mutter, die gleich durch zwei tollwütige Hunde versinnbildlicht wird und die für den Sohn auch lebenslange Freunde darstellen. Die tollwütigen Hunde als Metapher des eigenen Begehrens, die einen auflauern; all die imaginierten Hunde, die es zu füttern gilt, um sich in die Freiheit zu entlassen, eitrig und mit Schaum vor den Mund, um mit ihnen Gassi zu gehen in kalauernder Freiheit, in Stricher- und Manhattan Bars.


(8) Der Horror der Vergangenheit, der die Gegenwart behütet, Lieder anstimmt, vom Hirtenjungen, von Deportationen, von der Unabhängigkeit, vom Geben und Nehmen. Übergänge, Überblendungen, Verschiebungen von Wiederholungen, Nuancen, Details, zwischen Distanz und Distanzlosigkeit changierend, zwischen gebundener und gebrochener Sprache, autobiografische Annalen als Vergeblichkeitsprojekt der Poesie und als ihr einziger Sinn. Das Gedicht im Widerstand, sich jedem Zugriff entziehend. Das Gedicht muss verstehen – aber was? Hier der Zeilensprung zur Deportation der Mutter, zu ihrer Schizophrenie, das, was ihr angetan wurde, das Nichtrückgängig-, das Nichtwiedergutzumachende, nichtvergebbar, unverjährbar. Und doch auch ein Zeilensprung in das eigene Schreiben, ins feuer einer größeren krankheit, das alles bewahrt und notiert.


(9) Tkaczyszyn-Dycki als Grenz- und Einzelgänger, Underground-Ikone, im performativen Akt als gebeugter Schamane, randständig die Sprache vom Rand her bereichernd, wie es anderswo heißt. Aber was soll das sein – das Randständige. Tatsächlich basiert es auf überholten Konzepten und Kanons. Wólka Krowicka ist ein Kaff von etwas über 400 Einwohnern. Es liegt grenznah an der Ukraine, nach Lublin, nach Krakau ist es so weit nicht, nach Ungarn, Rumänien, der Slowakei. Wie abschätzig ist unser Blick, wenn wir von Randständigkeit sprechen, egal ob es sich um Amherst oder Wólka Krowicka handelt. Unsere Perspektive ist eine verzerrte, genauso wie unser Blick gefiltert und selektiv ist. Beidem können wir nicht trauen, genauso wenig wie unseren Interpretationen, unseren Erinnerungen, ohne die wir nicht wären, den Herausgeber*innen, Übersetzer*innen, Kurator*innen, Kartograf*innen, Laudatio-Haltenden, Preise Übergebenden, Totenscheineaustellenden, den Schnellzügen nach Warzawa, in die Freizügigkeit, in den Backlash – und am Ende den Dichter*innen selbst, wie sie sich über ihre Selbstinszenierung beugen und so weiterschreibend aus- und verharren.


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